Donnerstag, 19. September 2013

Bürgerkrieg in Syrien: eine denkwürdige Kundgebung

Vor einigen Wochen haben wir auf einem Plenum beschlossen, eine "große Friedensdemonstration" zur aktuellen Lage in Syrien zu organisieren, die ganz bewusst keine "Tag-X-Demonstration" sein sollte, also erst dann passiert, wenn ein Militärschlag durch NATO-Mitglieder geschieht, sondern unabhängig vom weltpolitischen Geschehen durchgeführt wird. Wir wollten unserem eigenen Anspruch gerecht werden und agieren, statt nur zu reagieren. Ursprünglich sollte die Demonstration am 07. September stattfinden, wurde dann aber aufgrund organisationstechnischer Schwierigkeiten - wir alle stecken ja gerade auch im Wahlkampf - auf den 14. September verschoben. Etwa 1,5 Tage nach unserem Mobilisierungsstart - die Plakate waren bereits gedruckt - erreichte uns die erste Hiobsbotschaft: die "Bucktopianer" wollen zeitgleich eine Endzeit-Demonstration durchführen, auf der gleichen Demoroute.
Diese neuerliche Terminkollision war insofern ärgerlich, weil unser Termin bereits über sämtliche Netzwerke kommuniziert worden war und eben vorher feststand. Nach ein paar Absprachen wurde der Demonstrationsbeginn der "Bucktopianer" - auch wir unterstützen Bucktopia 2013 mit einer Live-Performance und sind absolut solidarisch mit diesem tollen Event - dann um eine halbe Stunde nach vorne verlegt. Trotzdem: solche Überschneidungen sind für Magdeburg fast schon typisch und müssen in Zukunft unterbunden werden, denn das ohnehin schon geringe Mobilisierungspotential darf nicht noch gespalten werden. Bei dieser Kritik nehmen wir uns selbstverständlich nicht aus, denn auch wir waren in der Vergangenheit bereits Verursacher*innen von Terminüberschneidungen.

Ein Shitstorm von Bellizist*innen

Wenige Stunden nach Eröffnung einer öffentlichen Facebook-Veranstaltung mit dem Titel "Für einen nachhaltigen Frieden in Syrien" begann der Shitstorm. Bellizist*innen, also dogmatische Befürworter*innen militärischer und kriegerischer Lösungen, posteten uns Zitate wie "Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder - Paul Spiegel" oder Beschimpfungen und Beleidigungen auf die Seite. Ein Mensch bezeichnete uns gar als "Friedensnazis" und wünschte sich, dass wir von syrischen Flüchtlingen mal ordentlich auf die Fresse bekämen. Anhand der Anzahl der "likes" für diese Beiträge war recht schnell ersichtlich, dass die Kommentierenden auf ihren eigenen Profilen oder in Gruppen ordentlich zu diesem Shitstorm mobilisierten. Völlig unvorbereitet auf den Hass, der uns nun entgegenschlug, versuchten wir einen Weg zu finden, die Debatte über Sinn und Unsinn von militärischen Interventionen am Beispiel Syriens in vernünftige Bahnen zu lenken. Leider, wie sich bald herausstellte, waren wir die einzigen, die ein Interesse an einer sachlichen Diskussion hatten. Fast 200 Kommentare später - in der Zwischenzeit hatte sich daraus, wie kann es auch anders sein, eine Nahost-Debatte über Israel, Palästina, Zionismus und den BAK Shalom entwickelt - wurde der entsprechende Post dann aus Versehen und unwillentlich gelöscht. Bis dahin waren wir uns noch sicher, dass wir nichts zensieren würden. Als dann aber Einzelpersonen öffentlich bedroht und diffamiert wurden und gar von Strafanzeigen geredet wurde, sahen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion zu sperren und die Hetzbeiträge zu löschen. Einige Personen versuchten dennoch weiterhin, unsere Seite mit sinnfreien Beiträgen wie "Islam stinkt" zu trollen. Aus einer Moderation wurde also eine ständig notwendige Löschaktion.

Aus der Demonstration wird eine Kundgebung

Wir alle hatten am entsprechenden Samstag das Bauchgefühl, dass kaum jemand zur Demonstration kommen würde. Viele Absagen aus dem eigenen Verband sind dafür immer ein guter Indikator. Die weltpolitischen Zeichen standen glücklicherweise auf Diplomatie und Verhandlung, was allerdings das Interesse, an der Demonstation teilzunehmen, abschwächte, was allerdings mehr als schade ist, denn der Krieg wird nicht erst zum Krieg, wenn die USA interveniert. Der Bürgerkrieg tobt dort weiterhin. Jeden Tag. Es sterben täglich bis zu 100 Menschen - und ein Ende des Mordens ist nicht in Sicht. Gründe, um auf die Straße zu gehen, gab es also auch an diesem Samstag.

Unser Bauchgefühl sollte uns nicht enttäuschen: als gegen 16 Uhr sich nur etwa 30 Menschen eingefunden hatten, beschlossen wir, die Demonstration zur stationären Kundgebung umzufunktionieren. Kurz vorher gab es noch einen Disput mit der Polizei, die uns androhte, die Kosten des Einsatzes auf uns abzuwälzen, weil die Demonstrationsanmelderin zu spät gekommen sei - ein klarer Fall von Einschüchterung. Die Polizei war übrigens mit sechs Sixpacks und etwa 40 Beamt*innen vor Ort, was angesichts der paar Leute, die den Weg zur Kundgebung gefunden hatten, völlig übertrieben und mehr als lächerlich war.

Gleich zu Beginn fiel uns ein "Linker" mit roter Hammer- und Sichel-Flagge und "Palituch" [1] inmitten einer Gruppe von anderen Linken auf, der dann später noch eine Nationalflagge der Arabischen Republik Syriens schwenkte und eine Diskussion mit uns begann, was wir denn machen würden, wenn seine Kumpels aus Frankfurt mit Assad-Postern und -Konterfeis ankämen. Wir antworteten, dass Assad-Freaks hier nichts zu suchen hätten und dies die falsche Demo für Diktatorenfans und -befürworter*innen sei, woraufhin er sich tierisch aufregte und begann, Assad zum lupenreinen Demokraten zu verklären, der sich ja nur gegen Terroristen wehre und nicht etwa die Zivilbevölkerung abschlachte. Die anderen Gruppenmitglieder konnten wir nicht zu- oder einordnen.

Eine Gegendemo von FSA-Unterstützer*innen

Etwa zeitgleich sammelten sich etwa 20 - 25 Menschen ein paar Meter entfernt von unserer Kundgebung. Auch sie offenbarten nationale Symbole wie Fahnen und Schals, allerdings von der Syrischen Republik. Diese Fahne wird von der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) genutzt, die zusammen mit anderen Gruppierungen, zu denen u. a. auch der jihadistische al-Qaida Ableger Al-Nusra-Front gehört, gegen Assad kämpft. Dann kam Wulf Gallert, Fraktionsvorsitzender der LINKEn im Landtag von Sachsen-Anhalt, der den ersten Redebeitrag hielt und eindringlich appellierte, diplomatische und friedliche Lösungen den militärischen vorzuziehen und sofort alle Waffenexporte in die Region zu unterbinden. Währenddessen fing der "linke" Assad-Fan an, die sunnitischen FSA-Unterstützer*innen als Terroristen zu bepöbeln. Er schrie sich in Rage, woraufhin einige Anarchist*innen und Linksradikale einschritten, um mit ihm zu diskutieren und ihn von weiteren Dummheiten abzuhalten. Die gesamte Gruppe wurde aufgrund von Bierflaschenbesitzes von der Polizei ein paar Meter wegkomplimentiert. 

Während des zweiten Redebeitrages versetzte die Polizei, ohne dass wir das gewünscht oder gefordert hätten, auch die Gruppe der FSA-Unterstützer*innen, um ein paar Meter nach hinten, wo sie scheinbar eine Eilkundgebung anmeldeten. Nun disputierten die unterschiedlichen Gruppierungen untereinander, weswegen die Anzahl der Kundgebungsteilnehmer*innen auf ein Minimum schrumpfte. Die Situation eskalierte dann während unseres dritten Redebeitrages, als ein Mann direkt zum Mikrofon kam und laut schrie, ob wir denn wüssten, was es bedeute, Kinder, Freund*innen und Familie zu verlieren, was wir natürlich verneinten, denn nicht einmal ansatzweise vorstellbar ist das Leid, das der Bürgerkrieg in Syrien den Menschen zufügt. Als der Mann immer aggressiver wurde und beruhigende und auf Verständigung abzielende Worte unsererseits erfolglos blieben, kamen vier Polizist*innen, die die Situation entschärften und den Mann zur FSA-Gegendemo brachten, wo sie seine Personalien aufnahmen. Der dritte Redebeitrag wurde dann noch mehrfach von Sprechchören unterbrochen, die ein militärisches Einschreiten 
der USA forderten. Allem Anschein nach zählten uns die syrischen Flüchtlinge zum Assad-Unterstützerlager, wozu wir definitiv nicht zählen, was wir ihnen dann auch zuriefen. Indes waren immer wieder Pöbeleien des Assad-Freaks zu vernehmen, die immer lauter und aggressiver daherkamen. Jene, die ihn zu beruhigen versuchten, hatten alle Hände voll zu tun. Bei ihnen möchten wir uns ausdrücklich bedanken! Für uns war die Kundgebung zu diesem Zeitpunkt schon komplett gescheitert. Wir waren auf vieles vorbereitet, aber das hatten wir nicht erwartet.

Augenzeugenberichte

M. berichtet: "Der Rest der Kundgebung hatte sich ins skandieren oder diskutieren verlagert. Sicherlich ein Fehler von uns, beide Lager nicht angehört zu haben bzw. die Diskussion vorher mit ihnen gesucht zu haben. So wäre anstatt einer Demo, eine Diskussionsrunde "Syrien, was kann die Lösung sein?" wohl besser gewesen, wobei auch hier die emotionale Seite, die auch auf der Demo rauskam, schwer zu händeln ist. In Zukunft sollten wir zu den Themen die uns wichtig sind, mehr mit lokalen Akteuren zusammen arbeiten, besonders auch der radikalen Linken. Wissen und Einsichten können nur so auf alle übertragen werden."

Einschätzungen von Ma.: "Während der Demo hatten sich drei syrische Mitbürger zu den Zuhörern gestellt. Mit einem der Mitbürger ergab sich ein sehr inhaltsreiches und fruchtbares Gespräch über seine Familie (der Bruder ist noch in Syrien und will auch nicht weg, die Schwester ist nach Ägypten geflohen), über die aktuelle Lage und wie es ist seine Heimat zu verlieren und nicht wieder hin zu können. Das Gespräch war für mich eine sehr angenehme, aber auch sehr mitfühlende Erfahrung, die zeigt, wie gering doch der Einblick aus dem fernen Mitteleuropa auf die Situation in Syrien ist."

Nach Beendigung der Kundgebung gingen zwei von uns auf die FSA-Leute zu. R. schreibt hierzu: "Sogleich begaben wir uns zu  den FSA-Unterstützer*innen, die lautstark gegen unsere Kundgebung  protestierten, um das Gespräch zu suchen, was die Polizei zunächst,  irrerweise, zu unterbinden versuchte. Nach einem kurzen Geplänkel mit  einem Polizisten konnten wir uns dann austauschen und eine andere  Perspektive auf den Konflikt bekommen. Wir haben unaufgeregt, aber  emotional debattiert und klar gerückt, dass wir keinesfalls  Assad-Unterstützer*innen sind, denn das Gegenteil ist der Fall. Am Ende  haben wir Kontaktdaten ausgetauscht und vereinbart, gemeinsam eine (ergebnis)offene Diskussionsveranstaltung, vielmehr ein Gespräch, zum Syrien-Konflikt zu veranstalten. Wir sind froh darüber, dass unser  Gesprächsangebot sofort dankend angenommen worden ist. Uns alle eint die  Hoffnung, dass das massenhafte Abschlachten von Menschen in Syrien  endlich aufhört, nur die Vorstellungen eines Wegs dorthin unterscheiden  sich. Wir erkennen demütig an, wenig Kenntnis von der tatsächlichen  Situation vor Ort zu haben. Wir dürfen uns niemals anmaßen, den Konflikt  besser beurteilen zu können, als die Kriegsopfer, Hinterbliebenen und  Flüchtlinge, die in täglichem Kontakt mit ihrer Familie oder ihren  Freund*innen in Syrien stehen. Insofern sind wir sehr dankbar für dieses fruchtbare Ende. Gemeinderatsmitglieder der islamischen Gemeinde haben außerdem darauf hingewiesen, dass sie zurzeit eine Ausstellung mit  Fotografien aus dem Bürgerkriegsgebiet organisieren, die in Bälde im Eine-Welt-Haus zu sehen sein soll."

P. fasst dieses Gespräch in folgende Worte: "Nach dem Ende gingen R. und ich zu den FSA-Leuten. Zwar fand ich gut, dass wir reden konnten, doch gefiel mir die Art des Argumentierens des "Leitswolfs" nicht. Er schob alle Verbrechen der syrischen Armee zu, erklärte die FSA zu Befreiern und schimpfte auf Aleviten und nannte eine Grupper Syrer, welche mit uns redeten und nicht zur FSA-Gruppe gehörten, "Lügner"."

...und noch ein kleiner Shitstorm

Am Abend veröffentlicht ein Mitglied unserer Gruppe eine erste Zusammenfassung der aufwühlenden Geschehnisse. Daraufhin meinte jemand, der sich offensichtlich angesprochen fühlte, uns sowie Wulf Gallert mit einem kleinen Shitstorm überziehen zu müssen: "Verpisst euch, ihr demagogischen Opfer imperialer Desinformationen, Bewusstseinstrügung und Kriegstreiberei. Ihr seid keine "linken" Revolutionäre. Ihr seid systemkonforme, finanzkapitalistische Subjekte im Leben des monopolkapitalistischen, gesellschaftlichen Seins. Ihr seid eine Schande für die deutsche Friedensbewegung- und für die gezeichnete, gegenwärtige deutsche Linke. Das widert mich an." Unterstützung bekam er dabei von Chris Sedlmair, einem militant-antizionistischen Diktatorenfreak [2] - seine Lieblinge: Saddam Hussein, Gaddafi und Assad - der glücklicherweise aus der Linkspartei ausgeschlossen worden ist: "Solange FSA-Unterstützer in der "LINKEN" sind, ist diese faschistische unterwandert und unwählbar. Solidarität mit dem syischen Volk, seiner Armee und seinem Präsidenten. Kampf der FSA heißt Kampf dem Faschismus, Imperialismus und der feudalen Reaktion."

Am Ende war klar: mit unseren differenzierten Friedenspositionen, die ohne den gewohnten Sprachduktus des 19. oder 20. Jahrhunderts auskommen, sind wir Opfer eines Shitstorms der sich diametral entgegenstehenden politischen Lager geworden, auf der einen Seite einige dem "antideutschen" Spektrum zuzuordnende Kriegsbefürworter*innen, auf der anderen Seite "Anti-Imps", also dogmatische Anti-Imperialisten. Für die einen reicht zur Legitimation jeglicher Militärintervention, dass "das ja damals bei Hitler auch mit Kriegsgewalt geklappt hätte", für die anderen ist der "Imperialistische Westen" oder "Das Imperium" die einzige Erklärung und Analyse. Die zahlreichen Schattierungen dazwischen, die individuellen Rahmenbedingungen, die jeweils unterschiedliche Konfliktsituation und die immer neue Mächtekonstellation scheinen irrelevant zu sein; oder sie werden im Tunnelblick des Dogmas[3] schlichtweg nicht mehr wahrgenommen. Uns bestärkt das jedenfalls in unserem Weg, uns gegen jegliches Strömungsdenken zu verwehren und Lösungswege jenseits dieser einengenden Denk- und Analyseschemata zu suchen. Ein erster Schritt wird die bereits angesprochene öffentliche Diskussionsveranstaltung sein, die wir zusammen mit der Islamischen Gemeinde Magdeburg organisieren werden. Dort soll ergebnisoffen und vorwurfsfrei diskutiert werden, denn Kommunikation und Verständigung ist der erste Weg zu einer friedlichen Lösung, die Syrien doch so dringend nötig hätte.

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