Donnerstag, 2. Juli 2015

Redebeitrag auf der Kundgebung wider die unmenschliche Flüchtlingspolitik

Am 23. Juni riefen wir zu einer Kundgebung wider die unmenschliche Flüchtlingspolitik vor dem Herrenkrug-Hotel auf. Hier nun unser Redebeitrag*:

Hallo liebe Menschen,

ich freue mich, dass trotz der Kurzfristigkeit doch so viele gekommen sind, um hier anlässlich des Unions-Fraktionsspitzentreffens für eine neue, humanere Flüchtlingspolitik zu demonstrieren. 150 Vorsitzende diverser Unions-Fraktionen aus Deutschland befinden sich seit Sonntag in diesem Hotel hier hinter uns, um sich vorrangig auf eine gemeinsame Marschroute in Sachen Asylverhinderungs- und Flüchtlingsbekämpfungspolitik zu verständigen. Niemand geringeres als die Bundeskanzlerin Angela Merkel stattete der Konferenz gestern einen Besuch ab. Und für heute ist Bundesinnenminister Thomas „Mr. Coldheard“ de Maizère angekündigt bzw. war angekündigt, an dessen brutal-eiskalte Reaktion auf den Tod von über 1300 Menschen im Mittelmeer im April 2015 ich mich immer erinnern werde: „Würden wir jetzt jeden, der im Mittelmeer ankommt, einfach aufnehmen nach Europa, dann wäre das das beste Geschäft für die Schlepper, was man sich denken könnte. Das wäre Beihilfe für das Schlepper-Unwesen". Heute, drei Tage nach dem Weltflüchtlingstag, hat die Europäische Union dann übrigens auch den Militäreinsatz gegen Flüchtlingsboote und ihre Besitzer gestartet, gegen die, die sie früher „Fluchthelfer“ nannten und heute als „Schlepper“ bezeichnen - auch und gerade auf Initiative dieser Bundesregierung bzw. dieses Innenministers hin. Es ist ein Krieg gegen Menschen auf der Flucht.


Den Medien war gestern zu entnehmen, dass man sich darauf geeinigt hätte, Menschen
mit einer sogenannten „Bleibeperspektive“ zu integrieren, während Menschen ohne diese Perspektive schneller „das Land verlassen müssten“. Man bekenne sich zwar zum humanitären Flüchtlingsschutz, klar sei aber auch, dass von vornherein aussichtslose Verfahren schneller zum Abschluss gebracht werden müssten, damit „Platz und Kraft ist für die Schutzbedürftigen“ geschaffen werden könne. Dies sei „wichtig für die Akzeptanz des Asylrechts und der Flüchtlinge in der Bevölkerung“, wird etwa Mike Mohring, CDU-Chef im Thüringer Landtag zitiert, derselbe Mike Mohring, der vor nicht einmal einem Monat folgenden Satz fallen ließ während einer Rede der LINKEn-Abgeordneten Katharina König zum Thema 08. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, den die neue Landesregierung gerne zum gesetzlichen Feiertag machen möchte: Das sind doch nicht automatisch alles Verbrecher! Genau das Gegenteil. Sie machen aus einer sauberen Wehrmacht eine Verbrecherwehrmacht!“.

Was hier passiert ist nichts anderes als die Einteilung von Menschen auf der Flucht in zwei Klassen: gute, „verwertbare“ Flüchtlinge und schlechte, nicht verwertbare Flüchtlinge, die schnell abgeschoben gehören. Am 18. Juni einigten sich Bund und Länder bereits darauf, Geflüchtete ohne „Bleibeperspektive“ bis zur Schnellabschiebung in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder zu behalten. Sie sollen gar nicht erst auf die Landkreise verteilt werden, sondern bis zu ihrer Direktabschiebung desintegriert und isoliert bleiben, während Geflüchtete, denen eine „Bleibeperspektive“ angesonnen wird, schneller in den Genuss beispielsweise von Sprachkursen kommen sollen. Dass dies der elementaren Logik des Asylrechts, die jeweiligen Fluchtgründe individuell zu prüfen, widerspricht, ist eindeutig. Es soll selektiert und sortiert werden – und zwar nach Nützlichkeitskriterien. Diese Verwertungslogik atmet nicht nur eine gehörige Portion Kapitalismus, sondern auch Menschenfeindlichkeit. Es ist langsam müßig, daran zu erinnern, wozu die Einteilung von Menschen in die Kategorien „nützlich“ und „unnützlich“ in der Historie, explizit der ganz eigenen deutschen Geschichte, geführt haben.

Doch es kommt noch schlimmer: diese Massenabfertigung soll ab 2016 in vier sogenannten „Entscheidungszentren“ vollzogen werden. Dazu will das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2000 neue Mitarbeiter einstellen. Es steht zu befürchten, dass diese dann massenhaft und textbausteinartig Ablehnungsbescheide herausschicken, ohne die betreffende Person, die um Asyl bittet, jemals gesehen zu haben. Es ist also einmal mehr die Stunde des bürokratischen Verwaltungshandelns, die Stunde der Schreibtischtäter, die unfassbar weit entfernt sind vom persönlichen Schicksal, dass jeder Flüchtling mit sich herum schleppt. Davon betroffen sind inbesondere Roma aus den Balkan-Staaten, die die Bundesregierung in völliger Ignoranz zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt hat, obwohl Roma dort nach wie vor individuell, strukturell und institutionell diskriminiert werden, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder in der Gesundheitsversorgung. Pro Asyl schreibt dazu:

Da die Kapazitäten der EAE’s hierfür nicht ausreichen, werden wohl Außenstellen als Satelliten der EAE’s errichtet werden – in der Vergangenheit waren dies unter anderem ehemaligen Möbelhäuser, Turn- und Lagerhallen. Dort würden Roma, Westafrikaner und andere unliebsame Flüchtlingsgruppen unter prekären Bedingungen leben. Hierdurch droht nicht nur eine zusätzliche rassistische Stigmatisierung, auch eine individuelle Beratung sowie Hilfen für vulnerable Gruppen wie Kinder, Schwangere und Traumatisierte würden erheblich erschwert.“


Auf parlamentarischer Ebene ist es vor allem diese CDU, deren Spitzenfunktionäre sich
hier gerade treffen, die diese Entwicklung, die nichts anderes als eine weitere Aushöhlung des bereits völlig zerfransten Grundrechts auf Asyl, Artikel 16 Grundgesetz, bedeutet, vorantreibt. Und die SPD macht das alles willfährig mit, seit 22 Jahren. Wie so oft. So werden dann die neuerlichen Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht schon am übernächsten Donnerstag, den 02. Juli im Deutschen Bundestag, beschlossen, wenn nicht noch mehr öffentlicher Druck entfaltet werden kann. Was das konkret bedeutet, wird der nächste Redebeitrag zu erklären versuchen.

Es gibt aber eine Sache, die den Abschiebeapparat gerade mächtig ankotzt: es sind die zahlreichen engagierten Menschenrechtsaktivist*innen, die Abschiebung um Abschiebung blockieren, zuletzt drei Mal erfolgreich in Magdeburg und Calbe (Saale). Auch darüber bzw. über den Umgang damit wollen die Unions-Fraktionsspitzen beraten, ist der Presse zu entnehmen. Oberbürgermeister Trümper von der SPD und Innenminister Stahlknecht, CDU, hatten zuletzt schon angekündigt, diesbezüglich härter durchgreifen zu wollen, bis hin zur Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Doch von derartigen Muskelspielen und Repressionsandrohungen sollten wir uns nicht einschüchtern lassen, denn letztendlich geht es dabei um ein höheres Gut als die von Menschen und Parteien gemachte rassistische Verwaltungspraxis des Abschiebens, es geht nämlich um Menschenrechte, um nichts geringeres als den Schutz von Menschen, manchmal sogar Menschenleben. Der Fall der aus Albanien stammenden Familie Xhafei verdeutlicht das ganz gut: trotz eines gynäkologischen Gutachtens über die Reiseunfähigkeit der in der 32. Woche schwangeren Mutter sollte die Familie abgeschoben werden. Das Attest hatte das Sozialamt nicht interessiert. Die Schwangerschaft ist eine Risikoschwangerschaft. Ab der 28. Woche verlangen Fluggesellschaften bereits Reisefähigkeitsbescheinigungen. Das lag hier nicht vor. Es bestand Gefahr für Leib und Leben des Ungeborenen sowie der Mutter. All das interessierte die Behörden nicht. Und es kam noch schlimmer als sie vier Tage nach der verhinderten Abschiebung einen erneuten, unangekündigten Versuch unternahmen, der aber fehlschlug, weil die zwei-jährige Tochter im Krankenhaus lag. Sie lag im Krankenhaus und rang um ihr Leben, denn sie erlitt einen Blinddarmdurchbruch. Die ersten Symptome zeigten sich schon am Mittwoch. Medizinischer Behandlungsanspruch? Fehlanzeige, denn schließlich stoppten die Behörden sämtliche Leistungen für die Familie. Sie sei ja nun illegal hier. Die Kleine wurde also viel zu spät in Behandlung begeben und musste dann notoperiert werden, erlitt eine Blutvergiftung, hing an Schläuchen, kämpfte um ihr Leben. Und sie schaffte es, dank einer hervorragenden Uniklinik in Magdeburg. Hier wäre fast ein Kind gestorben! Es wäre gestorben am durch und durch auf Abschreckung und Flüchtlingsbekämpfung setzenden Asylsystem in dieser Bundesrepublik. Also ja, verdammt, wir werden immer und immer und immer wieder Abschiebungen blockieren, um diese Menschen, denen Hunger, Armut, Verfolgung oder gar der Tod in ihren Herkunftsländern droht, davor zu schützen! Ziviler Ungehorsam ist in diesem Fall nicht nur legitim, sondern absolut richtig und wichtig.

59,5 Millionen. Das ist die aktuelle Anzahl derer, die weltweit auf der Flucht sind. Die allermeisten davon fliehen vor Krieg. Es sind beispielsweise 11,6 Millionen Menschen aus Syrien, 4,1 Millionen aus dem Irak, 4 Millionen aus dem Kongo, 2,5 Millionen aus dem Südsudan, 1,8 Millionen aus Pakistan, 1,5 Millionen aus Zentralafrika, über 1 Million aus der Ukraine. Und so weiter. Noch nie zuvor war die Zahl Geflüchteter so hoch. Und sie wird vermutlich noch steigen, denn neue Konflikte entbrennen, neue Fluchtursachen entstehen, etwa wenn wir an die klimatischen Entwicklungen in der Welt denken. Mal ganz abgesehen vom menschenrechtlichen Grundanspruch auf Asyl sowie der Vision der grundlegenden Freizügigkeit in der Welt: jede Waffe, die Deutschland exportiert, jede Waffenfabrik, die deutsche Unternehmen irgendwo auf der Welt bauen, jeder Militäreinsatz, an dem Deutschland beteiligt ist und jede Stabilisierung despotischer, diktatorischer Regime führt dazu, dass Menschen flüchten müssen. Dieses Land ist systemisch und strukturell unmittelbar beteiligt daran, dass Menschen entwurzelt werden, ihr Hab und Gut verlieren, sämtlicher Lebensgrundlagen beraubt werden, ihre Familie verlieren, sterben. Und es zeigt sich nicht bereit, dieser unmittelbaren Verantwortung dahingehend gerecht zu werden, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Im Gegenteil. Es setzt Reihe um Reihe auf die ohnehin schon tödlich hohe Mauer, die Europa inzwischen umgibt. Es arbeitet akribisch daran, diese Festung mit all ihren Institutionen, hier sei nur mal FRONTEX genannt, noch stärker zu bewaffnen. Dieses Handeln ist nicht nur verantwortungslos, es ist schlichtweg menschenfeindlich. Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Wir wollen nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie Menschen an den europäischen Außengrenzen sterben müssen oder hier in Deutschland diskriminiert und entwürdigt werden. Wir werden den handelnden Akteur*innen keine Ruhe lassen, wenn sie sich in solchen Runden wie der heutigen treffen wollen, um ihre menschenfeindliche Politik konzertiert zu beschließen – und wir werden weiterhin zivil ungehorsam sein, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir wollen ein anderes Europa, eine andere Welt, eine Welt ohne Grenzen, Kriege, Armut und Unterdrückung – lasst uns daran arbeiten, gemeinsam, entschlossen und solidarisch.

Vielen Dank!
*Robert Fietzke, Mitglied im Vorstand des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt

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